Buchpublikation „Etwas anderes kannten wir nicht.“

Porträt einer Generation in der Surselva / Somedia Buchverlag

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„Etwas anderes kannten wir nicht.“ Senioren aus dem Bündner Tal Surselva erzählen aus ihrem Leben – unverblümt und mit Liebe zum Detail. Geschichten, die berühren.

Erzählt werden keine Biografien, sondern bestimmte, ausgewählte Ereignisse aus dem Leben jedes Einzelnen. Während uns Marionna Einblicke in ihre Kindheit gewährt, erinnert sich Ida an ihre Hochzeit, erzählt Maria vom Schwarzhandel während des Zweiten Weltkriegs, lacht Rosa über das sexuelle Unwissen und bedauert Oscar das Aussterben der Bergdörfer. Zusammen bilden diese Facetten das Bild einer in der Surselva aufgewachsenen Generation. Eine Generation, welche die Brücke schlägt von der Zeit der Weltkriege, der Krisen und Arbeitslosigkeit, des religiösen Lebens vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur heutigen globalen Wohlstandsgesellschaft. Sie ist Zeuge des gewaltigen technischen Fortschritts und gesellschaftlichen Wandels, die sich im 20. Jahrhundert vollzogen und ganz besonders im alpinen Raum grosse Veränderungen mit sich brachten.

Eine Idee entsteht

Das Projekt entstand aus einer ursprünglichen Idee, die Lebensgeschichte meiner Grosseltern schriftlich zu dokumentieren. Im Frühling 2012 fuhr ich mit meinem Fragenkatalog nach Truns zu meinen Grosseltern und führte das erste Interview mit ihnen. Mit jedem Gespräch wuchs mein Interesse an das Leben dieser Generation, und ich entschied, mein ursprüngliches Konzept zu erweitern, indem ich mehr betagte Senioren aus den Romanischen Gemeinden des Surselvatals besuchte. Was als kleines Experiment begann, reifte bald zu einem grossen Projekt heran. 

Oral History

In den darauffolgenden vier Jahren sammelte ich Lebensgeschichten von Sedrun bis Falera, und es entstand eine Sammlung aus 17 Porträts in Originalsprache Romanisch mit deutscher Übersetzung. Um die Authentizität der Erzählungen zu gewährleisten, zeichnete ich alle Gespräche auf Tonband auf, transkribierte sie anschliessend und verfasste den Text in direkter Rede. Die Sprache ist einfach und direkt; dorfspezifische und dialektale Ausdrücke weichen von der surselvischen Standardform ab, und in der Umgangssprache oft verwendete deutsche Ausdrücke wurden nicht übersetzt.

Ein Gesicht zu jeder Geschichte

Zu jeder Geschichte gehört ein Gesicht, das sie erzählt. Von allen Beteiligten machte ich in ihrem Zuhause oder im Altersheim ein Porträtfoto. Details in den Interieurs der alten Bündner Bauernhäuser und das von einem langen Leben gezeichnete Gesicht spiegeln das Erzählte wider. Im Buch sind keine alten Fotos zu finden. Das Abbild des „Heute“ und die dazugehörende Lebensgeschichte sind die einzigen Zeugen dieser vergangenen Zeit.

Mehr als ein Projekt

Während dieser vier Jahre verbrachte ich unzählige Stunden in alten Bündnerstuben oder Altersheimen, traf auf einzigartige Persönlichkeiten, und es entwickelten sich schöne Beziehungen und Freundschaften, die noch lange nach der Veröffentlichung des Buches währten. Die Senioren ließen mich mit viel Offenheit und Vertrautheit an ihrem Leben teilhaben – einem Leben, das geprägt war von harter Arbeit, wenig Bildung und einem starken Glauben an die Hilfe von oben. Eindrücklich und ehrlich erzählten sie von einer Welt, in der man sich durchkämpfen musste, in der es nichts umsonst gab, in der jeder seine klare Rolle in der Gesellschaft hatte. Es war eine Welt, die funktionieren musste – und dies auch tat.

Mein Buch „Etwas anderes kannten wir nicht. Porträt einer Generation in der Surselva“ erschien 2016 im Somedia Buchverlag in Originalsprache Romanisch mit deutscher Übersetzung. 

ISBN: 978-3-906064-60-4
Umfang: 464 Seiten
Format: 16,50 x 24 cm
Einband: gebunden
Erschienen: 1. Edition im Oktober 2016, 2. Edition im Mai 2019

Als Jugendlicher hatte ich meinem Vater einmal dabei geholfen, das Heu zusammenzunehmen. Er gab mir 50 Rappen dafür. Diese steckte ich dann sofort in die Hosentasche. Jeder Rappen wurde in die Hosentasche gesteckt und gesammelt. Wenn wir dann ab und zu abends nach dem Rosenkranz ein paar Burschen zusammen waren, legten wir das gesparte Geld auf einen Haufen und schauten, dass es für jeden für eine Flasche Bier im Wirtshaus reichte.

Lorenz Tomaschett-Spescha

Förster, geboren 1918 in Trun

Das war ein anderes Leben damals. Ich habe als Bauer noch die alte Zeit erlebt. Und ich habe gesehen, wie die Entwicklung nach dem Krieg in unserer Region alles verändert hat: das Leben und die Arbeit. Erschreckend, wie sich das verändert hat. Die Leute sind weg, es wurde wie verrückt gebaut, und die alten Häuser bleiben leer. Ich weiss nicht, wie es mit unseren Dörfern weitergehen soll.

Oscar Nay-Vincenz

Bauer, geboren 1930 in Zignau

Ich war immer gerne Bauer. Den ganzen Tag im Büro – so was hätte ich mir nicht vorstellen können. Aber wenn man sieht, wie kompliziert das Bauern heute geworden ist! Da käme unsereins nicht mehr mit. Ich hatte einmal gesagt, als sie gekommen waren, um im Stall nachzumessen, ob es auf den Zentimeter stimme: «Im Haus drüben kontrollieren, ob die Kinder Platz haben, das habt Ihr nie gemacht.» (lacht) Ach ja, wenn sie jetzt aufs Feld gehen, müssen sie im Rucksack das Reglement mitnehmen statt dem Kaffee – so ein Theater!

Werner und Rosa Maissen-Degonda

Bauer, geboren 1927 in Surrein
Bäuerin, geboren 1932 in Cumpadials

Oben in Cavardiras singen sie in einem Lied aus dem Kirchengesangbuch «Alleluja», dass Maria Evas Schuld auf sich genommen habe. Ich habe einmal zu einem Pater gesagt: «Ach, hört doch endlich auf, dieses Lied zu singen!» – «Sie denken zu viel!», war seine Antwort. «Ich weiss schon, dass Sie lieber Gläubige haben, die in die Kirche kommen und nichts denken!», habe ich geantwortet. Dann hat er sich von mir abgewandt und mit jemand anderem gesprochen. Ach, was will man denn heute noch von der Schuld Evas, von der Schuld der Frau, sprechen? Und was ist mit Adams Schuld?

Maria Bisquolm-Schmed

Bäuerin, geboren 1926 in Disentis, Madernal

Als ich ein Bub war, gab es sehr grosse Familien. Allein in Rabius hatten wir um die hundert Kinder. Es hiess manchmal: «Die Männer plagen diese Frauen zu Tode!» Die Frauen hatten nur zu arbeiten: kochen, Feldarbeit, ständig zur Kirche gehen und dazu noch eine Menge Kinder gebären. Ja, diese armen Mütter. Und heute ist es genau umgekehrt: plagen die Frauen die Männer zu Tode! (lacht) Die Kinder kommandieren die Mutter herum und die Mutter den Vater. Ist es nicht so? (lacht)

Marcel und Ottilia Beer-Soliva

Geschäftsmann, geboren 1925 in Rabius
Diplomierte Schneiderin, geboren 1928 in Rabius